Freitag, 24. November 2017

ETA Hoffmann - Der goldene Topf, 21./23.11.2017

Bekloppte Handlung in bravouröser Inszenierung
Der Mensch ist täglich von Wundern umgeben, die deutsche Romantik wollte den Sinn für das Wunderbare wiederbeleben und so das Leben romantisieren. ETA Hoffmanns Prosamärchen Der Goldene Topf aus dem Jahr 1814 ist eine Novelle der Romantik und kein Theaterstück. Daß es nun auf der Bühne des Karlsruher Schauspiels gelandet ist, hat einen einfachen Grund: wie auch Goethes Faust wird es zum Abiturthema, die Adaption soll es Schülern näher bringen. In diesem Fall bedeutet das glücklicherweise nicht, das phantasievoll-skurille und in gewisser Weise surreal-komische Märchen irgendwie exzentrisch auf diskutable Weise psychologisch umzudeuten, sondern vielmehr eine anschauliche Romantik-Erfahrung zu vermitteln, "die Vielschichtigkeit des Kunstmärchens beizubehalten und eine Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten zuzulassen". Und das gelingt beeindruckend gut! Man bleibt nah am Stoff und setzt ihn sehr einfallsreich, inspiriert, liebe- und humorvoll gestaltet in Szene. Daß Der Goldene Topf nun mal kein Theaterstück, sondern ein etwas abstrus hinkonstruiertes und zusammenfabuliertes Märchen mit manchen Willkürlichkeiten ist, bleibt die einzige Einschränkung dieser schönen Produktion.
  
Worum geht es in der Novelle? 
Der Goldene Topf – Ein Märchen aus der neuen Zeit. Die Ergänzung ist wichtig, Handlungsort (Dresden um 1814 - der Entstehungszeit der Novelle) und  Märchenwelt stehen nebeneinander, Gegenwart und Gegenwelt, Wirklichkeit und Wunderbares, Alltagsrealität und Zauberreich - zwei Parallelwelten mit vorhandenen Übergängen, Tausendundeine Nacht in Dresden, das Miteinander wirkt so selbstverständlich wie in den Harry Potter Romanen oder in den phantastischen Romanen von Haruki Murakami. Die Romantik wird in die Realität geholt, die Dualität zwischen beiden Welten bleibt bestehen. Drei gutbürgerliche Existenzen flankieren die Erzählung um den Studenten Anselmus: ein Rektor, ein Archivar und ein Registrator – sie sind Experten der Verwaltung und Ordnung.

Realität: Der ungeschickte und schüchterne Student Anselmus scheint gute berufliche Perspektiven zu haben. Doch plötzlich sieht er seltsame Dinge und wirkt befremdlich auf seine Mitwelt. Dennoch verliebt sich Veronika in ihn. Sie ist 16 Jahre und Tochter des Universitätsrektors Paulmann, der sich um seinen Studenten Anselmus sorgt. Registrator Heerbrand vermittelt Anselmus eine Tätigkeit bei Archivar Lindhorst. Bei ihm soll er fremdsprachige Dokumente, deren Schrift er nicht lesen kann, exakt und fehlerfrei kopieren bei gleichzeitiger dringender Warnung davor, bloß keine Tintenflecke auf das Original zu bringen. Anselmus hat Talent und gewinnt an Selbstvertrauen.
Veronika will geheiratet werden, und zwar von jemanden mit der guten beruflichen Perspektive einer Amtskarriere. Sie sieht in Anselmus ihren künftigen Ehemann und Versorger. Aus Angst, daß sie Anselmus nicht will, geht sie zu einer dubiosen alten Frau, dem Äpfelweib, die im Ruf der Wahrsagerei und Hexerei steht. Diese Alte bereitet mit Veronika einen Zauber, um Anselmus zu binden.

Märchen: Der Student Anselmus wurde nach einem Ungeschick von einer Hexe (dem Äpfelweib) verflucht, flüchtet und verliebt sich in die Augen einer sprechenden Schlange. Diese Schlange ist Serpentina, die Tochter des Archivars Lindhorst, der wiederum ein Elementargeist im Körper eines Salamanders ist, der aus Atlantis (ein Märchen-Paradies) verbannt wurde und in Menschengestalt in Dresden lebt. Um zurückkehren zu dürfen, muß er u.a. seine Töchter verheiraten. Lindhorst gibt Anselmus geheimnisvolle Schriften zu kopieren, Serpentina hilft ihm dabei. Der Student kommt hinter den Inhalt und erfährt die merkwürdige Familiengeschichte des Salamander. Durch den Zauber der Hexe beeinträchtigt, befleckt er ein Original und wird zur Strafe in eine Kristallflasche gezaubert und gefangen gehalten (oder anders interpretiert: Die vermeintliche Liebe zu Veronika und die angestrebte Ehe mit ihr führt Anselmus in ein gläsernes Gefängnis). Die Hexe bricht bei Lindhorst ein, um den Goldenen Topf zu stehlen (ein Geschenk eines anderen Elementargeistes an den Salamander und die geplante Mitgift für Serpentina und Anselmus). Anselmus warnt Lindhorst aus seinem Gefängnis heraus. Es kommt zum Kampf zwischen Zauberer und Hexe, die überwunden und in ihre wahre Gestalt verwandelt wird: eine Runkelrübe (das war schon vor 200 Jahren als Witz gemeint). Anselmus wird zur Belohnung befreit, bekommt Serpentina und zieht nach Atlantis.

Realität: Registrator Heerbrand ist zum Hofrat ernannt worden und heiratet Veronika, die bekommt, was sie sich wünschte: einen gutsituierten Mann. Der Erzähler der Geschichte (er entfällt in der Bühnenfassung) ist ratlos - Anselmus ist mit Serpentina nach Atlantis verschwunden und er kann seine Novelle nicht beenden. Archivar Lindhorst meldet sich bei ihm, um ihm den Ausgang der Geschichte zu erzählen. Gleichzeitig gibt er bekannt, daß er noch zwei weitere Töchter zu verheiraten hat. Dieses Ende wird für die Bühne etwas variiert.
  
Was ist zu beachten?
ETA Hoffmanns Figuren scheinen oft auch eine Krankheitsgeschichte zu haben, er verknüpfte Märchen und Psyche. Anselmus hat ein "kindliches poetisches Gemüt" gehört zu den wenigen Auserwählten, die sich in beiden Welten bewegen können. Für die gewöhnliche Mitwelt scheint er „betrunken und wahnwitzig“, man flüstert über seine „Anfälle“, verharmlost sie zu einem „träumerischen Zustand“. Ist Anselmus in einem „exaltierten Zustand“ oder einfach nur psychisch krank? Anselmus verliebt sich in Lindhorsts Tochter Serpentina, die nur in Gestalt einer Schlange erscheint. "Wenn ich nur dich habe, was kümmert mich sonst alles übrige; wenn du nur mein bist, so will ich gern untergehen in all dem Wunderbaren und Seltsamen, was mich befängt seit dem Augenblick, als ich dich sah". Doch „das Unbekannte und Wunderbare erregte auch Grausen und Entsetzen“ in Anselmus, „all das Seltsame und Wundervolle … hatte ihn ganz dem gewöhnlichen Leben entrückt“.

In Karlsruhe interpretiert man die Handlung nicht als Krankheitsgeschichte, sondern als Karriereweg, die Entscheidung zwischen Dresden und Atlantis ist hier eine berufliche Wahl: Schreiber oder Schriftsteller? Bürger oder Künstler? Prosa oder Poesie? Die grüne Schlange ist hier das Symbol für das Künstlertum. Anselmus entscheidet sich für Atlantis und für ein Leben als Künstler. "Er wird seine Zukunft in der Poesie finden und das Leben in einer poetischen Welt". Die Karlsruher Inszenierung romantisiert also eine Berufsentscheidung und bemüht bekannte Klischees. "Theater ist ein Ort der Kreativität, ein Ort der Phantasie und der Poesie" idealisiert das Programmheft und zeichnet ein Selbstlob, dem man als Zuschauer angesichts des Gegenteils oft nur kopfschüttelnd-lachend antworten kann. Der "Künstler" sieht sich gerne im Gegensatz zur "spießbürgerlichen Welt" und übersieht dabei, wie borniert und spießig er selber mit diesem konstruierten Gegensatz wirkt. In den vergangenen Jahren zeigte die Karlsruher Bühne gerne das Gegenteil von Kunst - es war gut gemeint und erfüllte gerade nicht, was man vom Theater als Institution fordern darf.
Anselmus ist am Ende der Novelle unerreichbar und aus der Welt gefallen. Man könnte den goldenen Topf als Gleichnis auf eine gescheiterte Künstlerexistenz deuten. Selbstherrlichkeit und Selbstüberschätzung sowie das Spannungsfeld von Mittelmäßigkeit und Kunst - ETA Hoffmann hätte wahrscheinlich eher die Ambivalenz entsprochen statt die Verherrlichung.

Die Welt muß romantisiert werden
Was ist literarisch romantisch? Novalis hatte das Betriebsgeheimnis der Romantik in Worte gefaßt: "Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzen-Reihe sind. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.  ....  Die Welt romantisieren heißt, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt. Erst durch diesen poetischen Akt der Romantisierung wird die ursprüngliche Totalität der Welt als ihr eigentlicher Sinn im Kunstwerk ahnbar und mitteilbar."
    
Was ist zu sehen (1)?
Das Programmheft beschreibt treffend die sensorischen Stärken dieser gelungenen Inszenesetzung:
Die Inszenierung will die Phantasie der Zuschauer aktivieren, sie "setzt ästhetische Anreize und läßt einen Bilderreigen entstehen", phantastische Welten sollen greifbar und erlebbar werden, erläutert das Programmheft. "Die Bühne von Vinzenz Gertler ist eine weiße Kiste, eine magische Box, die vibriert und leuchtet. Aus ihr fallen die Geschichte sowie ihre Figuren heraus ... Ganz im Sinne Hoffmanns ...  kann der Zuschauer durch das Zusammenspiel von Licht und Ton zum Beispiel ein Feuerwerk erleben. Später sieht er durch die Musik den Zaubergarten des Archivarius Lindhorst und spürt durch Gewittersound und Nebel Kälte. Immer wieder können neue Orte entstehen und sich im Nu verändern. Hallige Schritte werden bei Daniel Freitag zu einer Bassline, die unter der folgenden Szene liegt und deren Rhythmus bestimmt. Wie bei Hoffmann Kristallglocken ertönen, wenn Serpentina, das goldgrüne Schlänglein und Geliebte von Anselmus, erscheint, erhält sie ein Leitmotiv, das den ganzen Abend durchdringt. Sowohl die bürgerliche Alltagswelt als auch die wunderbare Fantasiewelt finden in der Zauberkiste ihren Platz. Gleichberechtigt stehen sie nebeneinander und verschränken sich.
Spielerisch greifen die Kostüme von Josephin Thomas die Eigenarten der Figuren auf. Sie geben ihnen Form und überhöhen sie, um sie von der Realität im Zuschauerraum abzugrenzen und als Wesen der Phantasie kenntlich zu machen. Bunt erscheinen vor allem die Bürger. Das Äpfelweib und Lindhorst, die Charaktere der Fantasiewelt, passen sich vom Kleidungsstil in die Gesellschaft ein, erscheinen im Alltag eher farblos. Sie haben die Kraft, sich zu verwandeln, werden zu Katze oder Adler, zu Feuerlilienbusch und Salamander."

Was ist zu sehen (2)?
Regisseurin Juliane Kann hat mit Schillers Jungfrau von Orleans bereits sehr gute Ansätze gezeigt, ihr Goldener Topf verstärkt den guten Eindruck. Humor und Ironie in Hoffmanns Novelle zeichnet sie in Typen: Luis Quintana spielt Anselmus als Tolpatsch aus Ernsthaftigkeit zwischen Pflicht und Entrückung, Jannek Petri als Lindhorst ist geheimnisvoll (und teilweise einen Tick zu albern, weniger ist mehr), den schwülstigen (und teilweise etwas zu langen) Märchenpassagen verleiht er vorbildlich Bedeutung und Ausdruck. Die sechzehnjährige Veronika weiß bei Kim Schnitzer, was sie will. Nach Gretchen ist Veronika für Schnitzer nun schon der zweite starke Auftritt und es gelingt ihr, beide Mädchenfiguren zu trennen und zu individualisieren. Mit ihr hat sich das Ensemble verstärkt. Ihr Vater Konrektor Paulmann ist als strenger Angestellter und besorgter Vater bei Timo Tank bestens aufgehoben. Es ist mal wieder großartig und eine Klasse für sich, wie Tank hier mit wenigen Sätzen und Bewegungen einen Typ konturiert, bei ihm kann man beobachten, was es bedeutet, eine Rolle zu verkörpern. Dem Registrator Heerbrand verleiht Jens Koch komische Statur - Bravo!, zusammen mit Tank sorgt er für den Witz dieser Inszenierung. Eine Höhepunkt ist die Schnapsszene (in der Novelle die Punsch-Szene aus der 9. Vigilie), bei der Schnitzer, Quintana, Koch und Tank zu großer komödiantischen Form auflaufen. Die Figurenkonstellationen stimmen und funktionieren mit einer Ausnahme: die Figur der Hexe (namentlich Liese oder Äpfelweib) ist ohne Dämonie, der Fluch zu Beginn ist ohne Bedrohlichkeit, die Darstellung durch Sithembile Menck bewegt sich in einer Mischung aus Puck und Catwoman und ermüdet schnell: etwas mehr Kraft und Stärke oder Abgründigkeit hätte dieser Figur gut getan und für Kontrast auf der Bühne gesorgt. Doch sonst trübt nichts die starken Leistungen aller Schauspieler - BRAVO!

Wer die Textfassung des Theaterstücks erstellt hat, ist übrigens aus dem Programmheft nicht ohne weiteres ersichtlich. Juliane Kann studierte in Berlin Szenisches Schreiben, anscheinend hat sie als Multitalent die gelungene Umarbeitung in ein Theaterstück ebenfalls übernommen - Bravo! Es gibt zwar manchmal Tempolücken, bei denen sich die Geschichte verlangsamt ohne sich zu verdichten, das Bühnenerlebnis vermittelt insgesamt den Eindruck einer authentischen und geschlossenen Umsetzung, die funktioniert. Nur am Ende rettet man sich etwas zu abrupt mit einem Alibi-Satz ins Ende.

Fazit: Eine sehr schöne und beispielhafte Übertragung einer skurrilen Prosageschichte für die Bühne, bei der wirklich alle und alles -Schauspieler, Regie, Bühne, Kostüme, Licht und Ton- stark zur Geltung kommen.
Und noch ein LOB: die Zeiten der Talfahrt unter dem inzwischen abgesetzten Schauspieldirektor Jan Linders scheint man inzwischen endgültig hinter sich gelassen zu haben. Man hat wieder ein sehr gutes Ensemble im Karlsruher Schauspiel, man gibt sich viel mehr Mühe mit seinen Produktionen, Engagement und Leistung vor, auf und hinter der Bühne stimmen wieder. Axel Preuß hat in kurzer Zeit viel erreicht. Wenn man sich programmatisch noch vom Vordergründigen entfernt und die Programmzusammenstellung nicht mehr zum Zwecke der Karriereförderung und Selbstdarstellung der Intendanz begreift, dann kann man wieder spannende Jahre erwarten. Man sollte sich mit dem Team des Goldenen Topfs zukünftig etwas weiter hinauf wagen, wie wär es mit mit Shakespeares Sturm?!?


Besetzung und Team:

Anselmus: Luis Quintana
Veronika: Kim Schnitzer
Konrektor Paulmann: Timo Tank
Registrator Heerbrand: Jens Koch
Äpfelweib / Liese: Sithembile Menck
Archivarius Lindhorst: Jannek Petri
Stimme Serpentinas: Judith F. Erhardt

Regie: Juliane Kann
Bühne: Vinzenz Gertler
Kostüme: Josephin Thomas
Musik: Daniel Freitag
Licht: Aljoscha Glodde

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